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Das Herz hungrig auf Singen: Annemei Blessing-Leyhausen

Annemei Blessing-Leyhausen ist Sängerin. Und auch in Corona-Zeiten ein bisschen auf Tour. Wie sich das anfühlt, wie es ist, auf großen Bühnen zu stehen, wie man einen solch außergewöhnlichen Beruf und drei Kinder vereinbaren kann und über das Glück, in Rottweil verwurzelt zu sein – ein Gespräch über Musik und mehr in diesen verrückten Zeiten.

Foto copyright Annemei Blessing-Leyhausen

Wie kam es, dass Du Sängerin geworden bist?
 
Ich habe erst Kirchenmusik studiert, weil das schon eine gewisse Tradition in meiner Familie hatte. Das war gut, intensiv und eine wunderbare Basis. Musik ist mein Leben. Aber nach dem Studium an meiner ersten Kirchenmusiker-Stelle in Tuttlingen habe ich zunehmend gemerkt, dass ich lieber Teil eines Teams bin, als allein auf der Orgelbank zu sitzen. Ich lasse mich gerne von einem Ensemble inspirieren, um sämtliche musikalischen Spektren auszuleuchten. Außerdem wurde immer deutlicher, dass im Gesang der unmittelbarste musikalische Ausdruck für mich liegt. Zunächst habe ich noch viel privaten Gesangsunterricht genommen, bevor ich mich schließlich am neugegründeten Institut für Alte Musik in Trossingen zur Aufnahmeprüfung anmeldete. Ich dachte: Das ist die Gunst der Stunde. Und es hat geklappt. Oper ist nicht meine erste Leidenschaft, Alte Musik, Frühbarock, Mittelalter hat mich dagegen schon immer begeistert. Dafür war Professor Richard Wistreich genau die richtige Adresse! Den ersten Unterricht bei ihm werde ich nie vergessen: Wir saßen bei ihm auf dem Fußboden in seinem alten Bauernhaus und hörten Freddy Mercury an. Ich dachte: Wow! An ihm wollte er mir zeigen, obwohl aus einem ganz anderen Genre kommend, wie natürlich und genial er Belcanto-Singen umsetzt, wie es das Gesangsideal des 16. Jahrhunderts war. Er war für mich eine Offenbarung, war universal gebildet und allseits interessiert und liebte das unkonventionelle Herangehen an sein Fach.
 
Und dann hast Du den Gesang zu Deinem Beruf gemacht?

Ja, ich habe in verschiedenen Ensembles gesungen, war unter anderem in Cambridge zur Summer School des Hilliard Ensembles, das als Spezialist für Alte und auch Zeitgenössische Musik galt – ich war ein großer Fan von deren CD-Aufnahmen. Von den Erfahrungen und Erlebnissen der Zusammenarbeit dort zehre ich bis heute, genauso wie von den dort geknüpften wichtigen und nachhaltigen Kontakten zu KollegInnen. Darauf folgte die Mitarbeit im neu gegründeten Deutschen Kammerchor und schließlich die Bewerbung bei Thomas Hengelbrock und seinem Balthasar Neumann-Chor, bei dem ich bis heute singe. Das war eine sehr spontane Aktion: Sein Büro rief mich an, ob ich binnen zweier Stunden in Freiburg zum Vorsingen kommen könnte. Mit zwei kleinen Kindern… Mein Mann ermöglichte mir das sofort, indem er die Kinder übernahm. Also bin ich nach Freiburg gefahren, und weil gerade Deutschland gegen die Türkei spielte, waren dort alle Kreuzungen verstopft. Ich dachte, ich komm nie an. Im letzten Moment stand ich dann da und hab einfach locker drauflosgesungen, dachte, wenn es nicht klappt, klappt es halt nicht. Aber es hat geklappt. Sie haben mich eingeladen, sehr kurzfristig einzuspringen für Bachs H-Moll-Messe. Kein Problem, dachte ich, dieses Werk hatte ich bereits mehrfach gesungen und gehört zu meinen absoluten "Leib- und Magen"-Werken. Leider habe ich erst drei Wochen vor der Tournee erfahren, dass ich die Messe auswendig singen müsste. Puh. Aber es war eine unglaubliche Offenbarung, eine phantastische Probenarbeit, die mich bis heute so fasziniert, weil Thomas Hengelbrock aus dem Moment heraus Bilder zeichnet. Du singst ein Stück zum x-ten Mal und durch ihn wird es jedesmal neu durchdrungen. Hengelbrock ist ein begnadeter Musiker, der uns über uns hinauswachsen lässt.
 
Wie kommt das Ensemble zu seinem Namen?
 
Ja, das ist etwas kurios: Balthasar Neumann war nicht nur ein epochaler Architekt, Militäringenieur und Baumeister. In seinem Jahrhundert galt er als Freidenker, entwickelte Baukunst, Malerei, Gärten zu einem Gesamtkonzept. Er steht für die vollendete barocke Baukunst und damit sozusagen als Pate für die Erhabenheit und Vollkommenheit von Kunst und Kultur. Ich denke, das vollkommene Gesamtkonzept hat Hengelbrock zu diesem Namen verleitet. Der Balthasar-Neumann-Chor und das -Ensemble arbeiten aber nicht nur an barocker Literatur.
 
Wie kam es, dass Ihr trotz Corona zusammen proben und auftreten konntet?
 
Thomas Hengelbrock und sein Team haben mit immensem Einsatz dafür gesorgt, dass wir trotzdem auftreten und musizieren können. "Warum sollen die Fußballprofis spielen dürfen, aber wir nicht singen?" -  In Anlehnung an den BVB und Unterstützung seiner Sportärzte sowie mit Berliner Hygienespezialisten hat er unter gigantischem Aufwand ein eigenes Hygienekonzept erarbeitet. Und so haben wir im Hochsommer im Dortmunder Konzerthaus eine Europäische Weihnachts-CD in 16 Sprachen aufgenommen. Das war phantastisch, bedeutete aber auch, dass jeder mit negativem Corona-Test anreisen und dann vielfach wiederholt getestet werden musste, insgesamt sechs Mal, dazu Hotelquarantäne aller Beteiligten, damit wir überhaupt auf die Bühne durften! Es hat sich so surreal angefühlt, aber gleichzeitig war es der Himmel auf Erden. Es war zutiefst berührend. Eine Woche später stand Haydns Schöpfung auf dem Programm, das erste Live-Konzert eines Chores mit Orchester seit der Corona-Krise. Und jeden Tag neue Informationen – wir dürfen auftreten, wir dürfen nicht – und schließlich ein Tag zuvor das grüne Licht: Wir dürfen tatsächlich ohne Distanz untereinander mit Haydns Schöpfung die Saisoneröffnung des Dortmunder Konzerthauses gestalten. Wir standen mit etwa hundert Leuten auf der Bühne und es war, als ob die Welt neu erschaffen wurde. Unglaublich. So intensiv, dicht, emotional wie nie zuvor erlebt. Ich bin unendlich dankbar.
 
Und finanziell ließ sich das machen?
 
Nein, eigentlich nicht.  Aber sehr viele Sponsoren haben uns gerade in diesen Zeiten großzügig unterstützt und den Rücken gestärkt. Und so konnten wir sogar im Dezember statt einer Tournee die H-moll Messe von Bach in der Elbphilharmonie als Streaming-Konzert produzieren. Auch dies: ein Geschenk für uns freischaffende Musiker.
 
Singen sei ja in Corona-Zeiten besonders gefährlich, heißt es immer wieder....
 
Ja, manchmal sagen Leute zu mir: Singen, das ist doch tödlich – halten Sie Abstand. Und wir dürfen - unter besagten Bedingungen - singen! Einfach unglaublich! Eine emotionale Lebensrettung, möchte ich sagen. Es gibt Kollegen, die aus finanzieller Not jetzt auf dem Bau arbeiten oder in einer Bäckerei. Viele leben davon, dass sie nun mehr unterrichten, wenn sie das können. Das habe ich auch mit großer Freude getan. Bis hin zu einem sehr berührenden Schülerkonzert unter detaillierten Corona-Regelungen, mit unglaublich viel spürbarer Dankbarkeit von Schülern und Eltern. Ich habe großes Glück, dass meine Tätigkeiten relativ vielseitig sind: Solo singen, Ensemble singen, Stimmbildungsunterricht, Klavierunterricht. Und ich habe einen Mann, der mich großartig unterstützt.
 
Weihnachten ohne Gesang in der Kirche, in der Oberen Hauptstraße oder anderswo, da hat uns allen viel gefehlt…
 
Ja, es tut absolut weh! Mir tun vor allem die Chöre so leid. Singen ist für viele ein Lebenselixier. Ich kann nur alle auffordern: Singt zuhause! Aber da fehlt oft die Gemeinschaft. Wir haben bei uns in der Straße wieder das Balkon-Singen initiiert. Das haben wir schon am Anfang des Lockdown gemacht, jeden Abend um sechs Uhr. Die Nachbarn haben die Noten vorher bekommen, ich habe am Klavier begleitet, so haben wir vier Wochen lang allabendlich zusammen gesungen. Jeden Abend öffneten sich noch mehr Fenster und Türen, Menschen haben mitgesungen, die wir so neu kennenlernten. Und alle zusammen „Freude schöner Götterfunken“ und jetzt Weihnachtslieder.  Das gibt einem das Gefühl: Wir halten auch auf Abstand zusammen und Weihnachten wird ein bisschen schöner.
 
Musik macht schon glücklich, stimmt´s?
 
Wir haben so ein hungriges Herz nach Musik, nach Gesang. Singen macht glücklich, steigert die Immunabwehr, verbessert den Schlaf und die Ausdauer, verbindet die Menschen, trainiert das Gehirn, schafft Frieden. 
 
Wie konntest Du Deine Karriere mit drei Kindern vereinbaren?
 
Ohne ein gutes Netzwerk wäre das nicht möglich gewesen. Teilweise habe ich die Kinder zu Proben mitgenommen. Als ich 2001 beim Deutschen Kammerchor und 2002 beim Balthasar-Neumann-Chor anfing, musste ich viel  reisen. Und da waren die Kinder wirklich noch klein. Ich habe manchmal Schülerinnen mit auf Konzertreise genommen, hatte meine Stillkinder bei CD-Produktionen dabei. Die Kinder werden dadurch auch offener für die Welt. Und sie spüren, wie erfüllt ich bin, wenn ich von einer Reise zurückkomme, total groggy, aber glücklich. Sie erleben, wie bedeutend das für mich ist.
 
Reisen oder Rottweil – was ist schöner?
 
Ich bin ja erst seit 1997 in Rottweil, aber es ist wirklich eine Heimat für mich geworden. Ich bin in Maulbronn aufgewachsen: Dorf, Kloster – auch Heimat. Aber hier in Rottweil bin ich zuhause. Und sehr dankbar, dass ich in einem Ort, in dem ich nicht aufgewachsen bin, angekommen bin, verwurzelt bin. Das genieße ich sehr. Und ich bin auch dankbar, dass es uns hier trotz aller Einschränkungen immer noch sehr gut geht. So vielen Menschen auf der Welt geht es, erst recht in Corona-Zeiten, viel, viel schlechter. Und ja, wer weiß, vielleicht erleben wir in diesem Jahr erstmals die stille Nacht, von der wir immer singen? Das hat doch auch was.
 
Mehr zum Balthasar-Neumann-Chor finden Sie hier.

Foto copyright Annemei Blessing-Leyhausen

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