Frohsinn in die Innenseite von Senfglasdeckeln geschrieben
All das Schöne, auf gelben Zetteln, auf Listen, und auf allem, worauf sich irgendwie etwas festhalten lässt
All das Schöne, von Duncan Macmillan, im Zimmertheater.
Hingehen! Unbedingt hingehen! Es ist klasse.
Ich war mit meiner Chefin und einigen Bewohnern ´meiner´ Wohngruppe vom Pflegeheim drin. Abends ausgehen, das hat Seltenheitswert. Wir waren alle aufgeregt.
Der Auftakt war etwas holprig, im wahrsten Sinn. Mit dem Rollator durch die Baustelle, den Aufzug hoch, durch den Hintereingang rein. Cooler Auftritt. Wir waren früh dran und sicher, wir bekämen gute Plätze. Aber einige der Bewohner sind motorisch eingeschränkt, und so stürmte die Menge an uns vorbei in den Saal. Die Stühle waren ringsum aufgestellt, der Platz vorne und in der Mitte blieb frei, aber weil wir nicht wussten, wo sich das meiste abspielt, mindestens eine der Bewohnerinnen ein stark eingeschränktes Sichtfeld hat und man überdies keiner zumuten wollte, lange zur Seite hin zu blicken, hätten wir sehr gerne eine der Sitzreihen belegt mit Frontalsicht. Aber die unteren Reihen waren schnell belegt, und auch eine der oberen, die meine Chefin vorauseilend noch schnell reserviert hatte, musste fast vehement verteidigt werden. Zu zweit versuchten wir der Bewohnerin mit Rollator nach oben zu verhelfen, (freilich dabei ohne diesen). Drei Frauen, die sich anstrengen, zwei flache Stufen zu erklimmen. Es dauerte. Und klappte nicht. Und keiner der Zuschauer der unteren Reihen war auf die Idee gekommen, Plätze zu tauschen. Ich war schockiert über so viel Unhöflichkeit. Wir setzten uns nach unten in die Reihen seitlich dessen, was als Bühne wenigstens angedeutet war.
Die Schauspielerin, Stefanie Smailes, man muss sie lieben, verteilte Zettel, jede von uns bekam auch einen. Darauf Nummern und Begriffe für ´schön´. ´Vogelgesang´ stand auf meinem. Nummer 31.
Mit dem ersten Satz hatte sie alle im Bann.
Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt. Die Mutter der Protagonistin leidet unter Depressionen und begehrt den ersten Selbstmordversuch. Die Protagonistin beginnt eine Liste all des Schönen, das das Leben lebenswert macht.
Wir begleiteten die Protagonistin durch etliche Jahre. Sie sang, (zum Dahinschmelzen!), sie tanzte, (beneidenswert), sie lachte, (herzerfrischend), sie trauerte, (zum mitweinen), und manchmal war sie so allein, dass man sie umarmen wollte.
Ein Zuschauer wurde Tierarzt, einer Vater, und erst dachte ich, „oh je, das ist eine harte Nuss, die da zu knacken ist“. Der Mann, der den Vater geben sollte, wollte partout nicht, und sein Aber war mit Händen zu greifen. Die großartige Stefanie Smailes aber ließ sich nicht beirren. Sie bat um den Schal einer Dame in der ersten Reihe, die diesen nur ziemlich widerwillig hergab. Der Schal spielte auch mit. Und dann wir mit unseren Zetteln und Nummern und Eigenheiten – und würden wir das auch wirklich so packen, dass es ins Stück passte? Der unwillige Zuschauer gab den Vater, und es war gut. Und wir packten´s auch alle. Es gab eine überaus glaubwürdige Lehrerin mit Sockenhund, und ich wurde Dozentin, die mit Aufmerksamkeit verlangendem Blick den Werther hochhalten sollte.
In der Bibliothek begegnet die Protagonistin der Liebe ihres Lebens. Smailes fragte das Publikum nach zwei Büchern. Und ich war so dabei, so im Stück - ich hatte mein Notizbuch in der Tasche und reichte es ihr. Ich dachte, ein Buch ist das auch. Ein Zuschauer hatte eines unterm Stuhl. Und da erst verstand ich, das Buch sollte Buch sein; es ging darum, dass zwei sich über Bücher austauschen, und hatte ich vordem noch eine Bewohnerin, die gerne mal mitredet, gebremst „psssst! Nicht hineinreden!“, rief ich jetzt „es ist ein Notizbuch“. „Vielleicht finde ich ja was Interessantes“. Au backe. Das kann schon sein. Ich dachte, mein Vorteil ist, dass man meine Schrift kaum lesen kann, ich selbst tue mich häufig schwer. Und dann erfand sie eine Geschichte. Ich hatte das Notizbuch geschenkt bekommen von meinem Bruder, der bei Solarmarkt arbeitet, und also hieß das Buch so. Die Sonne wird verkauft, aber es war auch eine Liebesgeschichte, und die Bücher wurden getauscht und die Liebenden kamen zusammen, und das Publikum freute sich mit, sie sang und tanzte und rockte den Saal. Alle waren verliebt wie sie. Und die Liste wurde länger und länger.
Wir Mitspieler wurden eingeladen, und der Vater, der erst gar nicht Vater sein wollte, hielt frei eine Rede; die Frau, die den Schal so ungern hergab, lächelte, und der Ärger über die mit Frontalsicht, die keinen Platz angeboten hatten – vergessen; vergessen auch, dass wir an der Seite saßen - es war völlig schnuppe; wir gehörten zusammen, und alle waren versöhnt. Keinen Augenblick, an dem Stefanie Smailes nicht restlos alle mitgenommen hätte. Es war eine wunderbare Reise.
Am Ende gab es eine Million Gründe das Leben lebenswert zu finden. Und der Schmerz hatte seinen Schrecken verloren, so arg er gewesen war. Wer nie einen hatte, „hat nicht genug hineingefühlt“. Auch das, finde ich, stimmt.
Eine Bewohnerin, die öfter mal was verliert, brachte mir mein Buch, das ich vergessen hätte. Und die Bewohnerin, die gerne hineinredet, sich im Alltag aber bisweilen ungern korrigieren lässt, bedankte sich für jedes „Psst“. Dieser Abend hatte Konzentration und Benimm verdient. Eine Bewohnerin bestand darauf, sich persönlich bei der Schauspielerin zu bedanken. Dann fuhren wir zurück, alle zutiefst berührt und begeistert.
Manchmal beglückwünsche ich mich selbst zu meinem Job. Samstagabend war es so. Und ich beglückwünsche mich zu allem Schönen, was mein Leben so ausmacht. Ins Theater gehen, Nummer 1 000 002. Nachts bei Vollmond heimradeln, 1 000 003. Die Kälte an den Beinen, 1 000 004.
Vorstellungen sind noch am 31. Januar und 1. Februar, jeweils 20 Uhr, und am 2. Februar, um 11 Uhr.
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