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Zwischen den Jahren

Ein Blick zurück und vor und ein Mal ringsum
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Es fühlt sich nicht „dazwischen“ an, sondern mitten drin.  Meine Mutter erzählt, früher haben sie gearbeitet bis HeiligAbend vier Uhr. Bis dahin musste alles gemacht sein. Dann war geschafft, vorbereitet und das Haus blitzblank. Dann kam Waschen und Umziehen, und die Weihnachtszeit begann. Und der Rest des Lebens ruhte. Das Vieh wurde versorgt, sonst nichts. Vielleicht war da „zwischen den Jahren“ echt Auszeit und ein Dazwischen.

Egal. Es steht ein Ende und ein Anfang ins Haus. Weihnachten ist vorbei, und es war schön, so, wie es sein soll, mit Frieden, Freuden und Kuchen. Über Konsumrausch und Völlerei lässt sich streiten, aber trotzdem finde ich wundervoll zu wissen, dass zeitgleich Menschen überall auf der Welt die Liebe und den Frieden feiern und kindliche Unschuld, die der Stern sein soll, an dem man sich orientiert. Ich schenke gern zu diesen Ehren und meine, wenn das überall geschieht, dann ist das Christkind so als Idee doch auch ziemlich real, auch ohne Frömmigkeit.

Und nun steht Silvester vor der Tür. Ich habe eine Weile getüftelt, bis ich einen Rahmen beisammen hatte. In diesen kontaktreduzierten Zeiten scheinen sich allmählich auch Umfeld und Freundschaften zu verändern. Vor Corona ließen sich viele Kontakte nebenbei halten. Man traf sich an Fasnet, Ferienzauber, Stadtfest und Weihnachtsmarkt, Geburtstage wurden groß gefeiert, man traf immer wieder aufeinander. Der Kreis der Nächsten scheint kleiner geworden. Wenn wer ausfällt, fällt schnell auch die Party flach, es müssen ja Groß und Klein zueinander passen, und außerdem will ich mich schon einigermaßen an die Kontaktbeschränkungen halten, nach eigenem Dafürhalten interpretiert, das schon, aber nicht negiert.

Wir campen jetzt in Freiburg und fahren an Neujahr in den Europapark. Da wollten die Kinder schon lange mal hin. Und das scheint mir ein guter Jahresanfang. Wir sind ja noch jung. Party gibt es auch mal wieder. Allem seine Zeit.

Letztes Jahr haben wir mit einer Freundin und deren Tochter gefeiert. Damals malten wir Bilder, was wir uns für 2021 wünschen. Ein paar Sachen sind gemacht: es ist gelesen worden und gewandert, gebadet und gereist und es gab doch auch ein paar Feste. Aber Corona ist noch da, und die Welt ist auch nicht gerettet.

Und trotzdem fühlt sich alles eigentlich ganz gut an. Ich staune. Als würde mit den Jahren doch vieles leichter. Vielleicht werden auch nur meine Schultern breiter. Oder ein paar Baustellen sind abgeschlossen und drücken nicht mehr. Vielleicht haben wir aber auch nur Glück gehabt. Für manche unserer Bekannten war es ein schweres Jahr. Einige haben geliebte Menschen begraben. Manche haben Lieben begraben. Ein paar sind krank oder wirtschaftlich arg gebeutelt. Das tut mir leid, und oft ist es nicht mehr, als eben dies zu sagen, was ich tun kann. Die meisten standen und stehen nicht allein – wenigstens. Die, die alleine sind, scheinen das aus freien Stücken zu sein, jedenfalls soweit ich dazusehe. Tragisch ist es mitunter dennoch.

Corona hat schon vieles offengelegt. Wir streiten über Definitionen von Freiheit und Demokratie. Was darf der Staat und was darf er nicht. Wo agiert die Gesellschaft und wo das Individuum.

Der Bundestag soll über Rahmenbedingungen einer Triage entscheiden, damit nicht ohnehin vulnerable Gruppen benachteiligt sind. Das ist schon krass. So weit kommt es schon. Trotzdem denke ich, ich hätte in derselben Nachrichtensendung gerne außer der aktuellen Inzidenz Zahlen über die Intensivbettenbelegung gehört. Wie weit ist man von einer Triage denn entfernt?

2021 hatte eine Funkstille in der Familie mit sich gebracht, in der mitunter auch verquer gedacht wird. Es hat wieder zusammengefunden. Die heiklen Themen werden tunlichst außen vor gelassen, dann geht’s. Ich will auch nicht mehr diskutieren. Viele Argumente und Vorbehalte sind dürftig und platt, und sie gehen immer am Punkt vorbei.

Egal, wie man das Virus einschätzt – es ist da, und wir üben „Krise“. Und statt über Freiheit, Staat und Demokratie zu streiten, statt durch die braune Soße zu waten, die sich da an die Hacken heften will, würde ich viel lieber über Wirtschafts – und Finanzsysteme streiten. Ich meine, das wäre dichter am springenden Punkt. Was muss geschehen, dass wir mit unserer Masse von 8 Milliarden wohlstandsuchenden Menschen nicht in nullkommanichts den Planeten vollends abgevespert haben. Und komme keiner daher und tue so, als könne man wählen zwischen sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Mag sein, es steckt da ein Konstruktionsfehler in uns und wir sind beides - Einzelgängerwesen UND Massenherdentier. Das ändert nichts daran, dass wir nicht so tun können, als wäre es anders. „Leave no one behind.“  Wir müssen alle mitdenken.

Geben wir es zu. Keiner hat einen Masterplan. Die Welt sähe anders aus, gäbe es den. Mache sehen offenbar einen rettenden Plan im Hetzen und Unterlassen, als würde eine zur Not auch seuchen – und krisengeschüttelte undoder kriegerische Dezimierung helfen. Aber wie blöd und assig ist das! „Instinktiv“ und „überlegt“ sind zwei Paar Stiefel.

In den Weihnachtstagen traf ich einen Bekannten, der eine Freundin an der russisch-ukrainischen Grenze hat. Ich kenne weder den Namen der Freundin noch den Namen der Stadt, in der sie wohnt; es sei eine Millionenmetropole 30 Kilometer vor der Grenze. Ich fragte, wie es ihr gehe, ob es sehr angespannt sei dort derzeit. „Eigentlich nicht“, sagt er, die Freundin sei recht entspannt. Es sei eigentlich egal, wer da sei, die Russen oder die Ukrainer, es sei eins wie das andere. Und da musste ich lachen, aber eigentlich ist´s zum Heulen. So sieht´s aus. Es ist eins wie das andere, sie kloppen sich um nichts, sie kloppen sich, weil sie sich kloppen wollen. Aber sooo wichtig und sooo stolzgeschwellt die Brust. Was ein Irrsinn.

„Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Spontispruch aus den 80ern. Er gefällt mir. Die Vorstellung hat was. Vielleicht sollte nicht jeder Konflikt sich selbst überlassen werden, aber viele schon.

Es gibt keine Spaltung der Gesellschaft. Der Ton ist rüde, auf allen Seiten, aber Spaltung ist was anderes. Das ist Schmarrn und wird hauptsächlich von denen behauptet, die sie gerne sähen. Es gibt nur ein paar Leute, die grad ziemlich am Rad drehen. Die Opferrollen konstruieren und aus dieser heraus Schuldigkeiten schaffen. Die aufwiegeln und Angst machen.

Sie sehen und ihnen den Respekt entgegenbringen, wie er jedes Lebewesen verdient hat, ist das eine. Niemand soll schlecht behandelt sein. Aber es sollte auch niemand in Versuchung kommen, ihre Wünsche bedienen zu wollen.

Kein Millimeter nach rechts!

Das regt mich auf am Widerstand gegen die Coronapolitik. Protest gegen einzelne Maßnahmen ist schier unmöglich. Sie haben diesen Schulterschluß zugelassen. Jetzt ist jeder Protest braun- und afd-unterwandert. Und zwischen Protest gegen Masken und Abstandsregeln und deren Auslegungen, und gegen Impfen an sich und Impfpflicht gibt es keinen Unterschied mehr; sie haben alles vermischt und diskreditiert. Echt – lieber Impfen als da mitgehen! 

Es hat ein Weihnachtsessen mit den Freundinnen gegeben. Eine fehlte wegen 2Gplus. Ich habe das sehr bedauert. Ich mag dies 2G nicht. Opa findet es klasse; „ich kann mich fast normal bewegen“, sagt er. Ich gönn´s ihm.

Wir haben über Faschismus geredet. Ich sage, es sollten jene, die diese Vergleiche ziehen und eine Diktatur beschwören, schon sehr genau hinsehen, WOMIT sie da vergleichen. Wer das tut, erkennt sofort den Unterschied. Wir guckten nach Afghanistan und sahen eine Diktatur, nach Afrika, und sahen Not und Unfreiheit. Ein über den Globus geschweifter Blick, und die Dinge stellen sich anders dar. Und wir guckten zurück in unsere eigenen Familiengeschichten.

Wir sind alle sehr befremdet über die derzeitigen NS-und-Diktatur-Vergleiche. Eine der Freundinnen - sie ist ungemein gescheit und ich bewundere sie glühend dafür – zitierte Hannah Arendt und deren  Abhandlungen zur schweigenden Masse, die sich in ´friedlichen´ Zeiten politisch nicht äußert und bekennt, nichtsdestotrotz bei entsprechender Ansprache politisch reagiert. Wenn die Wohlfühlblase in Gefahr ist zum Beispiel.

Grad sind einfach ein paar fiese Demagogen am Werk. Aber sie erreichen nicht die Mehrheit!

Ich hätte auch gerne Regeln, die mehr Raum lassen für Einzelentscheidungen und individuelles Abwägen. Aber dazu müssten sehr viele Leute lernen, mit Fehlern, Scheitern, Konsequenzen und Verantwortung überhaupt erst umzugehen. Das geht nur mit deutlich weniger Dampf im Kessel.

Ich hatte stets Sympathien für so manchen esoterischen Schnickschnack. Ich gehe sehr davon aus, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als ich sehen und erfassen kann und das dennoch Einfluss auf mich hat. Und ich stelle mir den Menschen nicht als Konstruktion bloßer Zellteilung und neurologischer Reize vor, sondern als Gesamtheit von Leib und Seele und Zusammenspiel mit geradezu galaktischem Bezug. Die Vorstellung gefällt mir gut: ich bin ein Körnchen im Universum und als solches mit allem verbunden. Ist doch klasse. Aber das Fass, das die esoterische Liga gerade aufmacht, und die Vehemenz, mit der sie das tut, das entsetzt mich. Das spottet jedem Gedanken der Aufklärung, pickt ein paar Rosinen und erklärt jeden zum König seines eigenen Reiches. Ich meine, kann man ja sein, aber bei genauem Hinsehen ist mein Reich eventuell nicht größer als eine Wabe, weil nebenan schon der nächste König, die nächste Königin wohnt. Die Wabe allerdings, die kann ich mir einrichten, wie ich will. Und das tue ich auch und lasse mir was einfallen dazu.

Und so starte ich ausgesprochen zuversichtlich ins neue Jahr. Ich wundere mich selbst darüber. Es war ein turbulentes, mitunter kräftezehrendes und verwirrendes Jahr, und turbulent geht es weiter, bestimmt. Aber ich fühle mich dem gewachsen, und ich fühle mich frei. Ich meine, natürlich gibt es eine Menge Aufgaben und Verpflichtungen, die meinen Entscheidungsspielraum begrenzen. Aber WIE ich diese Verpflichtungen und Aufgaben erfülle und welche Prioritäten ich setze, da habe ich enorm viele Möglichkeiten. Und das ist sie doch – die Freiheit. Keine Unmündigkeit – mein Kopf, meine Entscheidungen. So will ich im neuen Jahr ein wenig verschieben. Ich mag mein Blog, aber da liegen noch ein paar Sachen in der Schublade, die ich wieder rausziehen will. Ich war mit einem Freund in „Respect“, dem Film über Aretha Franklin; wir haben beide Rotz und Wasser geheult. Wie SIE in einer Zeit der Not ihren Gott besang und bejubelte, das ist ein Knüller. Ich singe wieder mehr und will das im neuen Jahr beibehalten. Wer singt, habe ich gelesen, empfindet auch keine Angst. Beides findet in demselben Gehirnareal statt, und das Singen besetzt dies dann quasi. Ich habe die Reportage „Die letzten Männer des Westens“ beiseite gelegt; es ist mir zu deprimierend. Stattdessen lese ich „Judiths Liebe“, über eine Frau, die von mehreren Männern geliebt wird, und darin beschreiben Passagen Vogelgesang, (mit „O“, bitte!),  und kulinarische Geschmacksfreuden, so dass ich schwelgend lese. Das ist deutlich erquicklicher.

Ausserdem nahm ich das Wort „Bekenntnis“ mit aus diversen Gesprächen und auch vom Weihnachtsessen heim. Sich zu einer Sache oder jemandem bekennen. Großes Wort. Manchmal geht´s nicht ohne, aber was soll das sein für ein Bekenntnis? Auch wenn ich kein Gelübde daraus mache, das mit der Hölle droht, wollen solche Worte wohlüberlegt sein. Ich habe ausgiebig gegrübelt und bin in mich gegangen. Was ich will und was nicht, was ich kann und was nicht, wo gehe ich mit und wo nicht. Und ja, ich glaube, ich weiß jetzt, wie es gehen könnte. Ruhe in der Beziehungskiste. Auch keine schlechte Aussicht.

2022, glaub ich, wird gut. Trotz und mit und in allen Krisen.

Allseits alles Gute.

Hinweis: Die in dieser Kolumne geäußerten Ansichten und Meinungen sind allein die des/der Autors/Autorin und spiegeln nicht notwendigerweise die Ansichten unserer Redaktion wider. Wir übernehmen keine Verantwortung oder Haftung für den Inhalt dieser Kolumne.

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