Weil nach den Sommerferien viel öfter etwas Neues beginnt als an Neujahr.
Das eine Schuljahr ist geschafft, das nächste vorbereitet. Jetzt geht’s erst einmal in den Urlaub. Wir wollen Schnorcheln. Dabei lassen sich Zeit und Raum vergessen.
Keine Müssens mehr, jedenfalls nicht so viele. Müssens, sagen die Kinder, kommen unproportional viel häufiger vor als Dürfens. Ich sehe das nicht ganz so. Was wie Müssen aussieht, ist manchmal bloß reine Anerkenntnis einer Realität. Wenn es kalt ist, „muss“ man einen Kittel anziehen, es empfiehlt sich jedenfalls. Nachts „muss“ man schlafen, wenn man anderntags etwas vom Tag haben will. Aufräumen muss sein, wenn man nicht dauernd suchen will. Zähne putzen ist gut für die Lebensdauer der Zähne. Usw. Aber Sachen machen, die man nicht machen will, das sind Müssens. Vokabeln lernen, Gleichungen mit Variablen lösen, stricken lernen und so. Zum Großwerden scheint es zu gehören, genau damit klarzukommen. Das wird besonders in der Schule deutlich, wo Kinder stundenlang stillsitzen und zuhören müssen, obwohl das ihrem Naturell ganz und gar nicht entgegenkommt. Das diene einem höheren Ziel, der Bildung. So weit so gut. Gut möglich aber auch, es geht nicht wenig um Disziplin und eben ums Erlernen des vielen Müssens.
Vor einiger Zeit war ich im Agenda-Kino. „Bildungsgang“ hieß der Film. Gedreht von Schulabbrechern und anderen, die die Schule mit Abitur beendeten, aber trotzdem für eine freiere, selbstbestimmtere Bildung eintreten. Sie alle erzählten, wie sie sich entmündigt und bedrängt, in Formen gepresst und missachtet fühlten. Weil Bildung gemeinhin als etwas verstanden wird, das die Einen in die Köpfe der Anderen schütten, nicht als etwas, was in diesen selbst geschieht, in denen, die „sich bilden“ in ihrem eigenen Gang. Sie empfinden sich in ihrem Wunsch nach Bildung gebremst, nicht gefördert. Und ohnmächtig sehen sie mit an, wie die Probleme unserer Zeit bleiben und akkumulieren, und wie schlecht sie darauf vorbereitet werden, sie zu lösen. Die Bildung, die sie erfahren sollen, präsentiert sich weiter stoisch in Form wirtschaftlich verwertbarer „Kompetenzen“. Weil alles auf die Wirtschaft ausgerichtet bleibt, wissend, dass das Streben nach ewigem Wachstum ein Irrweg ist. Und ganz nebenbei und ungerührt wird ein Heer an Verlierern produziert, die scheinbar nirgends hineinpassen. Der Film hat mich sehr beeindruckt.
Nach dem Film diskutierte das Publikum. Wie frei kann Bildung sein? Was macht unser Schulsystem mit den Schüler*innen? Der Lehrer einer nahen Hauptschule erzählte, wie es in seiner Klasse um Zahlen im Minusbereich gegangen war, und wie die Schüler*innen selbst es sich so erklärten: „wir sind die Minusschüler, Realschule ist Null, und die im Gymi sind Plus“. Das erschüttert mich nachhaltig. Was für eine deprimierende Selbsteinschätzung. „Viele Schüler*innen haben einen so komplizierten Alltag, dass sie gar nicht dieselbe Energie fürs Lernen aufbringen können wie andere“, betonte der Lehrer. Für schlechte Voraussetzungen gibt’s aber eher Punktabzug als mehr Unterstützung. Und mir fällt der Bub ein, der ein halbes Jahr, nachdem er aufs Gymnasium gewechselt hatte, zu seinem früheren Grundschulfreund gesagt hatte, „wer nicht auf dem Gymi ist, ist Schmutz“. Schmutz, nicht Dreck. So etepetete ist man dann schon.
Die Geringschätzung kommt aus der Gesellschaft, nicht aus den Schulen. Dort wird vielmehr versucht gegenzusteuern. Aber sie haben einen übel schweren Stand. Ich habe die Schulpflicht immer als ein Recht und eine Errungenschaft gesehen. Und meine Kinder sind auf einer tollen Schule. Dabei denke ich, die allermeisten Schulen sind gute Schulen und die allermeisten Mitarbeiter*innen geben ihr Bestes. Es ist nicht deren Verschulden, wenn die Ergebnisse nicht immer so sind, wie der Rest der Gesellschaft, die sich da eben sehr ambivalent verhält, das so wünscht.
Wir selbst haben das Schuljahr schadlos hinter uns gebracht. Immerhin. Es war um eine Grundschulempfehlung gegangen, die passt jetzt. Und wir sind einig mit Votum und Verlauf, aber knackig war´s. Das ist es wahrscheinlich immer, aber ich fand unfair – nicht schul- und lehrer*innen, sondern vorgabenbedingt - wie kein bisschen berücksichtigt war, dass diese jetzigen Viertklässler*innen unter Corona, Homeschooling und Notunterricht angefangen haben. Dennoch gilt von den Schulbehörden vorgegeben zB ein Fehler-Notenschlüssel im Diktat, als wäre nichts gewesen. Finde ich nicht okay.
In meinem Freundeskreis gibt es mehrere Grundschullehrerinnen. Eine sagte, „was in der 4. Klasse geschieht, ist eigentlich asozial. Da würd´s richtig heftig. Fast das ganze Schuljahr wird mit Blick auf die Grundschulempfehlung in die erste Hälfte gepackt. Wer sich da nicht zeigt als „fürs Gymnasium prädestiniert“, muss im Grunde froh sein, ohne Schaden durchzukommen.“ Das ist furchtbar. Die Kinder schadlos durchbringen – so kann nicht die Aufgabe lauten. Wenn Heranwachsende aber eben doch mal Schaden nehmen, braucht sich niemand zu wundern, wenn sich manche später ausklinken und als „nicht zuständig“ sehen.
Es brauche eine Art Sockelbildung, hatte ich in der Diskussion nach dem Film behauptet - Lesen, Schreiben, Rechnen, und auch Natur- und Geisteswissenschaften, weil die Gegenwart ohne nicht verstanden wird. Aber dann habe ich über eine Schule in der Schweiz gelesen, die Villa Monte, in der es Aufsicht und Material gibt, aber keine Lehrer*innen und keine Fächer, in der die Kinder einfach sind, spielend und schaffend lernen, und irgendwann können sie einfach lesen und schreiben, schwimmen und rechnen, Englisch und auch sonst ziemlich viel. Es gilt die Regel „du darfst nicht alles, aber du musst nichts.“ Und aus den Schulabgänger*innen werden stark im Leben stehende Leute, die wissen, was sie können und wollen, mitunter mit akademischen Laufbahnen und in Führungsposition. Da habe ich schon gestaunt - na bitte - geht doch!
Für den Automobilverkehr tut man so viel, und für Wirtschaft und Energie. Andere Themen müssen stets um Aufmerksamkeit buhlen. Bildung, Demokratie, Gesundheit, auch geistige – solche „Softwarethemen“ müssen sich immer rechtfertigen. In diesen Bereichen ist politisch und gesellschaftlich so wenig Mut und Schaffenswille zu finden.
Ach, der Automobilverkehr. Ich will gar nicht daran denken. Die FDP will zurück ins letzte Jahrtausend und Städte autofreundlicher umgestalten. Wir dagegen reisen ausgesprochen gerne mit dem Zug. Dies Mal ist die Hälfte der Verbindungen allerdings gecancelt, „aufgrund von Wartungsarbeiten“. Die Bahn ist so marode, dass es zum Heulen ist. Da ist viel zu warten, das sehe ich schon ein. Ärgerlich finde ich, wenn ich eine Reise auf Zugverbindungen stützend plane, die dann einfach kurz vor knapp gecancelt werden, und wenn die Zuggesellschaft dann schulterzuckend sagt, man kann das Ticket gerne zurückgeben und das Geld erstattet bekommen. Das rettet nicht die Reise.
Wir haben´s hinbekommen, und ich bin am Packen. Der Geldbeutel ist jetzt ein wenig schnmaler als er ohnehin schon ist. Aber sei´s drum. Beim Schnorcheln werden wir´s vergessen. Und dann volle Kraft voraus in ein neues Schuljahr. Vielleicht kann man Lernen auch als Dürfen begreifen lernen.
Allseits schöne Ferien.
www.central-kino-rottweil.de Agenda Kino
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