Es ist mitunter erstaunlich, wie leicht ein einziger Euro eine Stadt in Aufruhr versetzen kann. Ein Euro pro weiterer Stunde Parkzeit – das reicht derzeit aus, um in Rottweil von „Abzocke“, „Abschaffung der Innenstadt“ und „grüner Autofeindlichkeit“ zu sprechen. Die Pressemitteilung des Gewerbe- und Handelsvereins arbeitet mit genau diesen Bildern: Rottweil sei unattraktiv geworden, Besucher würden fernbleiben, die Innenstadt verliere ihre Strahlkraft. Es entsteht der Eindruck, als sei der Euro eine Art Eintrittskarte in den Niedergang, und als ließe sich die gesamte Misere des Einzelhandels an der Parkuhr festmachen.
Das Problem ist nur: Der Euro ist nicht die Ursache. Er ist der Auslöser – ein Funke, der eine Debatte entzündet, die in Wahrheit an der Oberfläche kratzt und den Blick auf das Wesentliche verstellt.
Rottweil hat kein Parkproblem. Rottweil hat ein Konsumkulturproblem.
Denn nüchtern betrachtet hat sich die Erreichbarkeit der Stadt wenig verschlechtert. Die Innenstadt selbst ist nicht durch Baustellen lahmgelegt, der Verkehr fließt – manchmal zu gut, wie der Lärm am Friedrichsplatz täglich beweist. Lediglich die Zufahrt aus Richtung Norden ist durch die Modernisierung der Bundesstraße derzeit weniger komfortabel, was aber mehr mit Landespolitik als mit kommunaler Fehlplanung zu tun hat. Gleichwohl nutzen manche dieses Nadelöhr, um ein Gefühl der Umständlichkeit auf die gesamte Stadt zu übertragen. Das ist menschlich, aber sachlich fragwürdig.
Die Parkgebühren selbst sind moderat. Eine Stunde bleibt kostenlos. Kurzparker können dank der viel gelobten Brezeltaste weiterhin völlig ohne Gebühr Waren abholen, die sie – wenn man ihnen die Möglichkeit geboten hätte – vorab per Click & Collect reserviert hätten. Wer also nur „mal schnell“ etwas holen möchte, hat weiterhin keinerlei Kosten. Und wer nach einer Stunde Innenstadtaufenthalt einen Euro entrichten muss, landet preislich weit unter dem, was Tuttlingen, Tübingen oder viele Mittelstädte im Land längst verlangen. Wer Rottweil deshalb für „unattraktiv“ erklärt, hat den Blick nicht für den regionalen Vergleich geöffnet, sondern für die bequeme Legende des Schuldigen, die sich leichter erzählt als die eigentliche Geschichte.
Denn die eigentliche Geschichte ist unbequem: Rottweil ist seit Jahren eine Hochburg des Onlinehandels. Das sagen Menschen, die es beruflich wissen müssen. Die Bequemlichkeit – ein Rottweiler Wesenszug, den viele mit einem freundlichen Lächeln kommentieren – ist längst zur treibenden Kraft des Kaufverhaltens geworden. Man kann darüber schmunzeln oder den Kopf schütteln, aber man sollte es nicht ignorieren. Wenn Onlinehändler wie Amazon und Zalando jederzeit liefern, wenn Temu mit Tiefstpreisen die Schnäppchenjagd zur Dauereuphorie macht und wenn der Alltag ohnehin von Sparsamkeit geprägt ist, dann wird die Frage „Fahr ich extra in die Stadt?“ zur Preis-Leistungs-Abwägung des Alltags. Und diese Rechnung fällt selten zugunsten des stationären Handels aus.
Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit, über die in der Debatte nur ungern gesprochen wird: Ein großer Teil des Rottweiler Handels verschließt sich seit Jahren den digitalen Möglichkeiten, die heute längst zur Grundausstattung gehören müssten. Wer in einer Zeit, in der selbst der Wocheneinkauf per App erledigt wird, nicht einmal grundlegende digitale Informationen aktuell hält, darf sich nicht wundern, wenn Kunden den bequemeren Weg wählen. Die neu eingeführte RottweilCard hätte eine Chance sein können, den Handel mit der Stadt und ihren Möglichkeiten zu vernetzen, Gutscheine sichtbar zu machen, Kundenbindung aufzubauen und Kaufkraft regional zu halten. Doch auch hier hört man vielerorts ein vorsichtiges „erst einmal abwarten“, als sei Digitalisierung ein Störfaktor und nicht die Bedingung dafür, überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Der Wandel ist längst da – nur wartet ein Teil des Handels noch immer darauf, dass er wieder verschwindet.
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind ohnehin angespannt. Inflation, hohe Energiepreise, steigende Insolvenzen und eine spürbare Kaufzurückhaltung drücken auf das Weihnachtsgeschäft wie ein schwerer Wintermantel. Für viele Haushalte ist jeder Euro zu viel, und für viele Einzelhändler ist jeder verlorene Verkauf ein weiterer Schritt Richtung Kante. Das alles schafft eine Atmosphäre, in der symbolische Themen – wie ein Euro Parkgebühr – emotional überfrachtet werden. Was fehlt, ist die Ehrlichkeit, die Gesamtlage zu benennen: Der Handel steht unter Druck, weil sich die Konsumkultur verändert hat. Und diese Veränderung begann lange vor dem Parkautomat.
In diesem Licht wirkt es fast paradox, wenn der GHV einerseits mehr Parkraum fordert, dann aber überrascht tut, dass dessen Betrieb nicht kostenlos ist. Wer Millionen in neue Parkhäuser investiert, muss diese Investition irgendwann refinanzieren – sei es über Gebühren oder über Mieten, wie es Einkaufszentren praktizieren. Dort stehen die Parkplätze zwar kostenlos zur Verfügung, aber die Ladenmieten sind hoch genug, um die Illusion zu finanzieren. Der Kunde fühlt sich umsonst bedient, zahlt aber hintenrum mit jedem Einkauf mehr. Man könnte sagen, es sei die freundlichere Form der Täuschung, jedenfalls eine, die der stationäre Handel in Innenstädten nicht kopieren kann.
Dass Rottweil dennoch den Eindruck erweckt, als würde es Besucher vergrämen, liegt nicht an der Parkregelung selbst, sondern am Missverständnis über Ursache und Wirkung. Die Stadt wird nicht unattraktiv, weil sie eine moderate Parkgebühr erhebt. Sie wird unattraktiv, wenn sie keinen Raum schafft, der den Weg in die Stadt rechtfertigt. Wenn der Verkehr am Friedrichsplatz lauter ist als das Leben auf dem Platz. Wenn sich Aufenthaltsqualität erst in Zukunft ankündigt, aber noch nicht zeigt. Wenn der stationäre Handel kaum digital sichtbar ist und die Kundschaft das gesuchte Produkt manchmal schneller im Paket findet als im Regal.
Es wäre leicht, die Debatte auf den Euro zu reduzieren. Doch wer das tut, macht es sich zu einfach. Rottweil steht nicht am Scheideweg wegen eines Parkscheins, sondern wegen eines Strukturwandels, der längst im Gange ist. Die Frage ist nicht, ob ein Euro zu viel ist. Die Frage ist, ob die Innenstadt ein Erlebnis bietet, das den Euro irrelevant macht.
Vielleicht ist es das, was diese Diskussion zeigen kann: dass Rottweil eine ehrliche, tiefere Debatte braucht. Über Konsumkultur, über Stadtleben, über Aufenthaltsqualität, über Handel, der sichtbar sein will, und Bürger, die Gründe brauchen, wiederzukommen. Der Euro mag der Anlass sein – aber niemals die Ursache.
Wenn wir über die Zukunft sprechen wollen, sollten wir daher nicht am Parkscheinautomaten stehen bleiben. Wir sollten darüber sprechen, wie wir die Stadt so gestalten, dass sie nicht nur erreichbar, sondern auch begehrenswert ist.
Nur dann wird Rottweil nicht ein weiteres Opfer des Konsumwandels – sondern ein Ort, der Zukunft hat.
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